Die Lage in Syrien ist kompliziert. Diverse Völker, Konfessionen und Grossmächte verfolgen ihre Ziele.
Angefangen hat der Konflikt bereits während des arabischen Frühlings 2010/2011. Auch in Syrien protestierte die Bevölkerung gegen Armut, soziale Ungleichheit und das autoritäre Regime von Baschar al-Assad, und ein Grossteil der sunnitischen Bevölkerung fühlte sich von der hauptsächlich aus shiitischen Alawiten bestehenden Regierung nicht gut repräsentiert. Diese Proteste arteten in einen Krieg aus und diverse Grossmächte mischten auf den beiden Seiten mit. Anbei eine (vereinfachte!) Übersicht, wer auf welcher Seite unterstützt, und wieso:
Auf Seiten des Assad Regimes und somit gegen die „Rebellen“ kämpfen der Iran, der seinen Einfluss im Nahen Osten stärken bzw. vergrössern will. Ausserdem sind die Libanesiche Hisbollah (von manchen als verlängerter Arm Irans angesehen) auf ihrer Seite, sowie Russland, deren Regierung eng mit Assad befreundet ist und durch ihn ihren Einfluss im nahen Osten sichern will. Auf Seiten der Rebellen kämpft und unterstützt die USA, die einerseits wirtschaftliche Interessen im Gebiet verfolgt, andernseits wollen sie den syrischen Nachbarsstaat Israel schützen, der ebenfalls in den Krieg involviert ist. Hinzu kommt die Religiös-motivierte Rolle von Saudiarabien, deren sunnitischen Herrscher auf Seiten der ebenfalls sunnitischen Rebellen stehen. Hinzu kommt die wichtige Rolle der Türkei, die sich auch als Regimkritiker Syriens ausgibt und sich vermeintlich um den Nachschub für die Rebellen kümmert. Soviel also zum Syrienkonflikt im Allgemeinen.
Ich möchte jetzt aber eine äusserst interessante Region in Nordostsyrien beleuchten, die im Kontext dieser Umwälzungen und verzwickten Lage eine spannende Entwicklung durchgemacht hat: Rojava.
Während dem Bürgerkrieg gab das syrische Regime unter Assad 2013 die Kontrolle über einige Regionen an der Nordgrenze auf. Lokale Kurdische Parteien und Kräfte übernahmen daraufhin die Verantwortung. Die Partei der Demokratischen Union stellte zusammen mit kleineren Parteien eine Übergangsverwaltung auf, um den durch den Krieg hervorgerufenen Missständen entgegenzuwirken. Im März 2016 rief eine Versammlung kurdischer, assyrischer, arabischer und turkmenischer Delegierter in Rumaylan eine autonome Föderation Nordsyrien aus: Rojava. Weder die USA, Russland, noch das Assad-Regime und die syrische Opposition unterstützen die Autonomiebestrebungen. Insgesamt wird in Rojava der Plan verfolgt, ein demokratisches System aufzubauen im Sinne des selbstverwalteten demokratischen Konföderalismus*. (= Ideologie, der nichtstaatlichen Gesellschaft in Kurdistan*) (=historisches Siedlungsgebiet der Kurden, kein anerkannter Staat) Obwohl die kurdische Minderheit jahrzehntelang diskriminiert wurde, möchte die selbstverwaltete Region Rojava ein Zusammenleben aller verschiedener Völker und Religionen ermöglichen. Eine direkte Repräsentation aller gesellschaftlichen Gruppen, – kurz pluralistische Demokratie – wurden ab Beginn der Revolution angestrebt und durch den Gesellschaftsvertrag verankert, welcher für einige fortschrittliche politische Umstände verantwortlich war: Zum Beispiel ist die Gleichberechtigung der Frauen darin festgelegt, aber auch Themen wie Religionsfreiheit, Ökologie und die Stärkung der Demokratie stehen als Grundprinzipien gleich am Anfang des Gesetzeswerkes. Jeder Bürger und jede Bürgerin hat das Recht auf medizinische Versorgung, Arbeit und Wohnraum. Auch dürfen keine Asylsuchenden abgeschoben werden. Die Verwaltung soll dementsprechend die multiethnische und religiöse Situation in Nordsyrien widerspiegeln und besteht jeweils aus einem kurdischen, arabischen und christlich-assyrischen Minister.
Ein Zitat des Repräsentanten Sipan Ibrahim untermauert das:
„Wir wollen den Menschen (…) deutlich machen, dass in Rojava Kurden, Araber und andere Bevölkerungsgruppen geschwisterlich zusammenleben.”
Die Revolution von Rojava steht also im Kontrast zu den monistischen* (=einparteiige) Staaten des Mittleren Ostens, die auf eine Identität, eine Nation, eine Sprache und eine Religion setzen und jede Abweichung diskriminieren oder gar zu vernichten versuchen. Es wird noch lange dauern, bis der Gesellschaftsvertrag und den mit ihm kommenden Rechten von der ganzen Bevölkerung Rojavas wahrgenommen werden kann, aber es ist ein wahnsinnig starkes und hoffnungsstiftendes Signal für ein friedliches Syrien der Zukunft, in dieser vom Krieg geprägten Zeit.
Unten finden sich die Parolen von der Demo in Bern, welche recht aufschlussreich sind, und gegen den Türkischen Auflauf in Rojava gerichtet sind.
Quellenverzeichnis:
Der Gesellschaftsvertrag der Demokratischen Föderation von Nordsyrien
https://www.handelsblatt.com/politik/international/syrien-tuerkei-spielt-eine-wichtige-rolle/6931820-2.html?ticket=ST-865048-0MGe52evvwTCRAXoJbbn-ap4
https://www.arte.tv/de/videos/084989-000-A/syrien-rojava-stellt-frauen-gleich/
https://www.woz.ch/2011/neun-jahre-krieg-in-syrien/die-message-scheint-zu-sein-bleibt-einfach-in-eurem-land-und-sterbt
https://de.wikipedia.org/wiki/Rojava
Flagge: Kurdistan:
https://www.needpix.com/photo/download/89221/kurdistan-flag-country-free-vector-graphics-free-pictures-free-photos-free-images-royalty-free-free-illustrations
Spannender und umfassender Beitrag über einen anscheinend sehr komplizierten Konflikt, bei dem man schnell den Überblick verliert.
Kompliziert das ganze. Aber irgendwie scheint man einen Lösungsansatz gefunden zu haben. Wieso wird es noch lange dauern bis der Gesellschaftsvertrag (und die dazugehörigen Rechte) von der ganzen Bevölkerung in Rojava wahrgenommen werden kann? Und weisst du, ob Rojava als Vorbild für ganz Syrien dienen soll?
Wirklich einen sehr spannenden Beitrag!