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Brexit Stand Ende Dezember 2020



Teil 1 | Teil 2 | Teil 3 | Kurzversion

Nachteile für das Vereinigte Königreich


Verlust der Teilnahme am Binnenmarkt


Grund

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Die Personenfreizügigkeit ist sowohl für Verfechter des Brexit wie auch für Schweizer EU-Gegner vielleicht der wichtigste Grund, um die Teilnahme am EU-Binnenmarkt abzulehnen. Umgekehrt gehört die Personenfreizügigkeit aber integral zu einem Binnenmarkt (vgl. Definition bei Wikipedia), mir sind keine Ausnahmen bekannt. Auch in der Schweiz oder im VK gilt die Personenfreizügigkeit innerhalb der Staatsgrenzen, es geht hier also um deren Ausdehnung auf die ganze EU.

Da die Personenfreizügigkeit von der EU nicht verhandelt wird, gibt es nur zwei Möglichkeiten: wer am Binnenmarkt teilnimmt, muss die Personenfreizügigkeit akzeptieren - oder den Binnenmarkt verlassen. Ersteres hat die Schweiz mit der Ablehnung der sogenannten "Begrenzungs-Initiative" bestätigt, letzteren Weg hat das VK gewählt.

Mit dem Austritt aus dem Binnenmarkt fallen aber auch alle Vorteile des Binnenmarkts weg. Mit dem nun ausgehandelten Freihandelsabkommen werden viele negative Auswirkungen des Austritt abgefedert, gleichwohl wird der Austritt für das VK viele negative Folgen haben.


Neue Aussengrenze

Zollfreiheit und rules of origin

Das VK kann ab dem 1.1.2021 zwar weiterhin zollfrei in die EU exportieren, allerdings nur Produkte, welche zum grössten Teil im VK hergestellt wurden. Wenn ca. 50 Prozent der Bestandteile eines Produkts oder mehr nicht aus dem VK oder aus der EU stammen, fallen Zölle an. Wie das genau berechnet wird ist mir unbekannt - es ist aber offensichtlich, dass dies sehr aufwändig zu bestimmen ist und detailliert dokumentiert werden muss. Und die EU wird an der Grenze kontrollieren, ob diese Bestimmungen eingehalten wurden. Dies gilt insbesondere auch für Lebensmittel - es wurde schon die Frage gestellt, ob ein Lastwagenfahrer noch ein Schinken-Käse Sandwich als Verpflegung über die Grenze bringen darf. Streng genommen ist das in Zukunft wohl nicht mehr erlaubt, es stellt sich höchstens die Frage wie streng dies durchgesetzt wird (vgl. hier).

Die Zollfreiheit ist aber vor allem für die EU wichtig, da sie mehr Produkte ins VK exportiert als umgekehrt. Zudem spekuliert die EU wohl darauf, dass die zusätzlich notwendige Bürokratie und genauere Kontrollen vor allem für kleinere Unternehmen aus dem VK, die vornehmlich in die EU exportieren, teuer zu stehen kommen. Es ist deshalb eher anzunehmen, dass sich Unternehmen neu im grösseren Markt der EU ansiedeln, als dass sich Unternehmen der EU im kleineren Markt VK niederlassen.


Warteschlangen an der Grenze

Durch die neu durchgeführten Grenzkontrollen rechnet man mit grossen Staus. Das VK hat damit begonnen, grosse Parkplätze zu bauen, wo Lastwagen warten können. Es wurde sogar ein ehemaliges Flugfeld dazu hergerichtet, das während der Grenzschliessung im Dezember 2020 mehrere 1000 Lastwagen aufgenommen hat. Bislang fehlt es aber an Infrastruktur wie Toiletten, Duschen, Verpflegung etc. Zudem sollen nur noch Lastwagen in die Nähe der Fähre gelassen werden, welche nachweisen können, dass sie die Zollunterlagen korrekt ausgefüllt haben. Das Problem hierbei ist, dass wenn die Kontrolle kurz vor der Fähre stattfindet und die Unterlagen fehlerhaft sind, der Lastwagen den Hafen verstopft oder umkehren muss, was zu weiteren Verzögerungen führt.


Just in time Fertigung

Moderne industrielle Herstellung verzichtet in der Regel auf grosse Lager, insbesondere auch die Autoindustrie. Dort wird beispielsweise ein Lenkrad fertig angeliefert und in der Fabrik wenige Stunden nach der Anlieferung bereits montiert. Viele Vorprodukte wie Lenkräder werden allerdings zentral in der EU hergestellt, ins VK geliefert und dort montiert. Die Autofirma Honda hat so schon Anfang Dezember 2020 seine Fertigung im VK einstellen müssen, weil es zur Verzögerung von Lieferungen gekommen ist (vgl. hier).

Gibt es nun strengere Grenzkontrollen wird es schwieriger den Zeitplan einzuhalten - zumal wenn es zu langen Staus kommen sollte wie oben prognostiziert. Es ist deshalb anzunehmen, dass nicht nur die Autoindustrie aus dem VK abwandern wird - was teilweise schon geschehen ist. Es könnte aber auch sein, dass das jetzt ausgehandelte Freihandelsabkommen die Abwanderung stoppen wird, da immerhin keine Zölle gezahlt werden müssen.


Grenze zu Irland

Als eines der grössten Hindernisse für den Brexit hat sich die Grenze zu Irland erwiesen wie bereits in Teil 1 dargelegt wurde. Der Austritt aus dem Binnenmarkt hat also dazu geführt, dass es neu eine Aussengrenze innerhalb des Vereinigten Königreichs geben wird und sich meines Wissens Produzenten in Nordirland weiter an die Regeln der EU halten müssen.



Verlust der vier Grundfreiheiten

Das VK wollte unbedingt die Personenfreizügigkeit beenden. Damit fallen aber auch die anderen drei Freiheiten weg: der oben beschriebene kontrollfreie Warenexport, der kostenfreie Kapitalverkehr und insbesondere die Dienstleistungsfreiheit.

Dienstleistungsfreiheit

Letzteres bedeutet, dass das VK neu nicht mehr EU Regeln unterstellt ist, sondern für jeden der 27 EU Staaten andere Regeln gelten. Zudem verliert es wichtige Vorteile für Banken etc. Da aber der Dienstleistungssektor im VK für über 70 Prozent der Wertschöpfung am BIP verantwortlich ist, bedeutet dies ein schwerwiegender Nachteil für das VK. Es ist allerdings möglich, dass das VK hier in einem künftigen Abkommen noch Vorteile erhält.

Grundsätzlich ist es britischen Unternehmen aber natürlich erlaubt, Tochterfirmen innerhalb der EU zu gründen, die dann dem EU-Binnenmarkt unterstellt sind. Für diese Unternehmen gelten dann aber wieder die Regeln des Binnenmarkts inklusive Europäischer Gerichtshof.

Besonders deutlich zeigt sich das im Flugverkehr. Britische Flugunternehmen wie Easy Jet dürfen fortan keine Flüge mehr innerhalb der EU anbieten, sondern nur noch Flüge zwischen EU und dem UK (ob auch mit anderen Staaten weiss ich nicht). Um dies zu umgehen hat z.B. Easy Jet (für die ich eigentlich keine Werbung machen möchte…) bereits Tochterunternehmen in der EU gegründet, die dann nach EU Recht agieren und weiter Flüge innerhalb der EU (also z.B. Paris-Berlin) anbieten dürfen.

Personenfreizügigkeit

Der Verlust der Grundfreiheiten bedeutet aber noch mehr. So benötigen britische Staatsangehörige, die in der EU arbeiten wollen künftig ein Arbeitsvisum. Hier stellt sich bereits die Frage, ob ein Meeting in der EU noch erlaubt ist oder nicht. Touristen dürfen auf jeden Fall innerhalb von 180 Tagen 90 Tage visafrei in der EU bleiben. Dies stellt vor allem für die vielen britischen Rentner z.B. in Spanien ein grosses Problem dar. Sie dürfen nicht mehr das ganze Jahr in Spanien bleiben, sondern müssen nach 90 Tagen für 90 Tage zurück ins VK. (vgl. hier).


Möglicher Zerfall des VK

Bei der Brexit Abstimmung 2016 war das VK tief gespalten. Nur England und Wales (vgl. Karte) hatten für den Brexit gestimmt, Schottland und Nordirland waren dagegen. Nordirland wird mit der neuen Grenze in der irischen See weiter vom VK abgespalten und es wird die Möglichkeit haben über eine Wiedervereinigung mit Irland abzustimmen. Je nachdem wie sich der Brexit entwickelt ist dieses Szenario nicht komplett ausgeschlossen - mit vielen Konsequenzen bis hin zum Bürgerkrieg.

Schottland hatte 2014 über seine Unabhängigkeit abgestimmt - was von einer Mehrheit abgelehnt wurde, nicht zuletzt mit dem Argument, dass ein unabhängiger Staat Schottland nicht Teil der EU sein würde. Zwei Jahre später kam es zur Brexit Abstimmung. Die schottische Regierungschefin fordert deshalb das Abhalten einer erneuten Abstimmung, dies müsste aber von der britischen Zentralregierung in London bewilligt werden. Und eine solche Bewilligung ist zurzeit kaum denkbar. Wie es hier also weitergehen wird ist letztlich unklar.


Weitere Probleme

Mit dem Ende der Übergangsfrist muss das VK der EU nichts mehr bezahlen, erhalten britische Regionen, Universitäten etc. aber auch keine Subventionen mehr von der EU. Das heisst das VK muss in vielen Bereichen diese Gelder übernehmen oder mit Protesten rechnen.

Auch im Bereich der Bildung hat der Brexit Auswirkungen. Zuvor gehörte die Anerkennung von Berufsqualifikationen zum Aufgabenbereich der EU - sprich, hatte jemand im VK eine Ausbildung gemacht wurde diese EU-weit anerkannt. Neu sind dafür die Einzelstaaten zuständig, was es für britische Arbeitnehmer viel komplizierter macht, sich in verschiedenen EU Staaten zu bewerben. Zudem hat sich das VK aus dem Studentenaustauschprogramm "Erasmus" zurückgezogen.

Mit dem Austritt aus der EU wird das VK nun zwar eigene Handelverträge schliessen dürfen, es verliert aber auch rund 50 Verträge per 1.1.2021, was den Handel in die davon betroffenen Staaten deutlich erschweren und verteuern wird.

Und nicht zuletzt wird sich das VK nun vermehrt alleine dastehen, was international zu einem Bedeutungsverlust führen könnte. Es gibt hier verschiedene Szenarien bis dahin, dass China seinen Einfluss auf der Insel zu vergrössern versuchen wird. Hier Prognosen zu machen ist allerdings seriöserweise nicht möglich.


Und zuletzt: die Fische…

Von besonderer Bedeutung war der Fischfang. Das war der letzte Aspekt, der am 24. Dezember noch verhandelt wurde und Boris Johnson betonte immer wieder, dass das VK mit dem Brexit die Souveränität über "seine" Fische zurückerlange. Grundsätzlich geht es darum, dass viele französische und spanische Fischer in britischen Gewässern fischen - weil das innerhalb der EU erlaubt war und sie von den Briten Lizenzen gekauft hatten. Die Details sind mir unbekannt, aber letztlich ging es darum, dass nach dem 1.1.2021 möglichst nur noch britische Fischer in britischen Hoheitsgewässern, im "britischen" Meer fischen dürfen. Johnson stellte sogar bereits Kriegschiffe bereit, um die Seegrenze zu kontrollieren und z.B. französische Fischer in britischen Gewässern festzunehmen.

Bei der Fischindustrie geht es um weit weniger als 1 Prozent der Wirtschaftsleistung sowohl vom UK als auch von der EU. Sie hat aber grosse symbolische Bedeutung, weshalb Boris Johnson hier nicht nachgeben wollte. Das Ergebnis hat aber zu Proteststürmen bei den britischen Fischern geführt. Was wenig erstaunt, denn Fischer aus der EU dürfen noch während 5.5 Jahren in britischen Gewässern weiterfischen, wobei die Quote allmählich auf 75 Prozent gesenkt wird. Nach dieser Übergangsphase sollen die Quoten jährlich neu verhandelt werden. Die ursprüngliche Forderung der Briten war nach einer ungesicherten Quelle: Reduktion auf 20 Prozent innerhalb von 3 Jahren.

Fun fact zum Schluss: bis zu 90 Prozent des Fischs, der von den Briten gefangen wird wird in die EU exportiert. Zugleich importieren Briten andere Fischsorten, weil diese ihnen besser schmecken…