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Brexit Stand Ende Dezember 2020 - Kurzversion



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Worum es geht


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Am 24. Dezember 2020 war es soweit: EU und Vereinigtes Königreich Grossbritannien und Nordirland (kurz: VK) haben sich auf einen Vertrag geeinigt und damit den No Deal Brexit verhindert. Ein solcher hätte vor allem für das VK verheerende Konsequenzen gehabt. Sichtbar wurde dies, als Frankreich am 21. Dezember wegen einer Coronavirusmutation die Grenzen zum VK schloss. Als Folge stauten sich Tausende Lastwagen auf der Insel.

Mit dem nun ausgehandelten Abkommen scheint der Brexit erledigt. Es wird zwar weiter viele Verhandlungen geben, aber das künftige grundsätzliche Verhältnis VK - EU scheint nun klar zu sein. Doch wie sieht dieses Verhältnis Stand Ende Dezember 2020 / Anfang Januar 2021 aus?


Das Austrittsabkommen von 2019


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Offiziell war der Brexit, der Austritt des VK aus der EU am 31. Januar 2020 geschehen. Doch bis zum 31. Dezember 2020 blieb das VK faktisch noch Teil der EU, um in dieser Zeit das zukünftige Verhältnis zu verhandeln.

Damit der Brexit am 31. Januar hatte funktionieren können, war bereits ein Austrittsabkommen beschlossen worden. Dort wurde festgelegt, dass das VK der EU noch sämtliche Schulden zahlt, was mit Leuten geschieht, die sich aus der EU im VK oder aus dem VK in der EU niedergelassen haben und was mit der irischen Grenze passiert.

Das Problem mit der irischen Grenze besteht darin, dass die EU ihre Aussengrenze zwingend schützen muss. Die Grenze zwischen Irland und Nordirland, das zum VK gehört war aber seit dem EU Beitritt sowohl von Irland als auch des VK faktisch nicht mehr existent. Die Grenze müsste also neu errichtet werden, was zum wahrscheinlichen Aufflammen des nordirischen Bürgerkriegs geführt hätte.

Im Austrittsabkommen wurde nun festgelegt, dass die Grenzkontrollen in den Häfen der Insel Grossbritannien stattfinden, dass das VK also faktisch geteilt wird. Im Detail ist es noch viel komplizierter, mir ist letztlich unklar wie das genau funktionieren soll. Hier finden Sie das Ganze noch etwas genauer erklärt (Abschnitt Rückblick Austrittsvertrag)


Was sich mit dem 31.12. 2020 verändert


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Das jetzt ausgehandelte Freihandelsabkommen ist noch nicht von den Parlamenten der EU und des VK ratifiziert (= "gültig gemacht") worden, weshalb es vorerst nur provisorisch in Kraft tritt, bis dies geschehen ist. Es ist also immer noch möglich, wenn auch wenig wahrscheinlich, dass das Abkommen scheitert.

So oder so wird das VK ab dem 1.1.2021 definitiv nicht mehr Teil der EU sein. Es ist damit auch nicht mehr Teil des EU Binnenmarkts, weshalb für das VK ab diesem Datum auch die vier Grundfreiheiten des EU-Binnenmarkts nicht mehr gelten (vgl. Grafik).

Es endet damit also die Personenfreizügigkeit, welche vorsieht, dass Menschen aus der EU sich ohne grosse Bürokratie im VK niederlassen können - etwas, was den Brexitbefürwortern gar nicht gepasst hatte.
Es endet damit aber auch die Dienstleistungsfreiheit, was für das VK ein grosses Problem ist, da es vor allem Dienstleistungen (z.B. Banken, Versicherungen) in die EU "verkauft". Das wird nun deutlich komplizierter.
Auch für den Warentransport gilt keine Freiheit mehr, es wird also genaue Grenzkontrollen geben.
Mit dem Ende dieser Freiheiten muss sich das VK aber auch nicht mehr dem Europäischen Gerichtshof unterordnen, auch dies ein wichtiger Grund, warum viele Briten für den Brexit waren. Erwähnt werden soll in diesem Zusammenhang aber doch, dass der Europäische Gerichtshof für Nordirland, das ja weiter im EU-Binnenmarkt bleiben wird, weiter zuständig ist (ich habe gesagt, das mit der Grenze in Irland kompliziert ist…).

Mit dem Austritt aus dem Binnenmarkt muss das VK zudem nichts mehr in die EU-Kasse einzahlen, auch das ein wichtiges Argument der Brexit-Befürworter. Allerdings rechnet man damit, dass der durch den Brexit entstehende zusätzliche Verwaltungsaufwand, sowie die negativen Auswirkungen auf die Wirtschaft diese Kosten bei weitem übersteigen werden. Dem VK wird also durch den Brexit weniger Geld zur Verfügung stehen als zuvor.

Das VK wird zudem sämtliche durch die EU ausgehandelten Freihandelsverträge verlieren (über 60 Stück), wobei es jetzt selber solche Verträge schliessen kann.


Das Freihandelsabkommen von 2020


All dies geschieht so oder so. Und noch vieles mehr. So wäre ohne nun geschlossenes Abkommen zum Beispiel der Flugverkehr stark eingeschränkt worden, hätte es Probleme gegeben bei der Zulassung von Lastwagen, die die Grenze queren etc. etc. Mit dem Abkommen konnten aber wichtige negative Auswirkungen des Brexits abgefedert werden:

Waren

Der wohl wichtigste Punkt betrifft den Handel mit Waren. Mit dem Austritt aus dem EU-Binnenmarkt wird die EU ihre Grenze gut schützen. Es darf nichts in die EU gelangen, was nicht den im EU-Binnenmarkt vorherrschenden Regeln entspricht. Auf Firmen, deren Waren die Grenze überqueren, wird in Zukunft ein grosser Papierkrieg zukommen, es wird deutlich komplizierter als vor dem Brexit. Es ist kein Zufall, dass der Vertrag über 1200 Seiten umfasst.

Immerhin wurde im hier besprochenen Vertrag die Zollfreiheit vereinbart. Auf Waren, welche die Grenze überqueren, wird also auch in Zukunft kein Zoll bezahlt werden müssen. Die Zollfreiheit ist vor allem ein Vorteil für die EU, weil sie mehr Waren ins VK exportiert als jenes in die EU.

Die Zollfreiheit gilt allerdings nur für Produkte, deren Bestandteile zu ca. 50 Prozent und mehr im VK oder der EU hergestellt wurden (= "rules of origin"). Wenn also bei einem Auto 70 Prozent der Teile direkt aus Asien stammen, muss das Auto verzollt werden, auch wenn es im VK zusammengebaut wird. Dies zu dokumentieren wird einen riesigen Aufwand bedeuten vor allem für britische Firmen.

Mit dem Austritt aus dem Binnenmarkt gelten zudem neue Bestimmungen, was in die EU importiert werden darf. Besonders Nahrungsmittel und lebende Tiere werden nun viel strenger gehandhabt. So ist es, wenn nicht sogar verboten, in Zukunft zumindest fraglich, ob Lastwagenchauffeure noch ein Schinken-Käse Sandwich als Verpflegung in die EU mitbringen dürfen.

Dienstleistungen

Während für die EU der Warenaustausch zentral ist, stehen für das VK Dienstleistungen im Fokus. Das VK verdient sein Geld wesentlich mit dem Export von Dienstleistungen, insbesondere auch in die EU. Für Banken, Versicherungen, IT-Anbieter, Architekten etc. wird es nun aber massiv komplizierter, ihre Dienstleistungen in der EU anzubieten. Denn mit dem Austritt aus der EU endet auch die Dienstleistungsfreiheit - und Dienstleistungen werden in diesem Vertrag schlicht nicht behandelt. Zumindest theoretisch fällt das VK erst einmal auf das Niveau eines Drittstaates wie Nordkorea zurück - was wohl ein wenig übertrieben ist, da einige Punkte bereits geregelt wurden. Grundsätzlich ist der Vergleich aber nicht völlig falsch.

Das VK erhofft sich womöglich vor allem im Bankenwesen durch den Brexit Vorteile zu erlangen, indem es z.B. mit tiefen Steuern, höheren Löhnen oder liberaleren Gesetzen und weniger Regeln Firmen anzieht. Das VK wird hier über mehr Flexibilität verfügen als zuvor, dafür fällt für viele Firmen ein wichtiges Argument weg, im VK zu investieren: die Teilnahme am Binnenmarkt.

Die EU stellt dem VK ein Abkommen über Dienstleistungen in Aussicht und es wird bereits darüber verhandelt. Der Export von Dienstleistungen wird für das VK aber auf jeden Fall aufwändiger und viele UK-Firmen haben bereits Tochterfirmen in der EU gegründet, um Dienstleistungen für EU Staaten neu aus einem Staat der EU heraus anzubieten.

Personenfreizügigkeit

Mit dem Ende der Personenfreizügigkeit wird es für britische Unternehmen auch deutlich aufwändiger, eigene Angestellte zur Arbeit in die EU zu entsenden (das müsste theoretisch auch für ein einfaches Meeting gelten). Dazu wird in Zukunft in der Regel Arbeits-Visum benötigt. Briten dürfen sich künftig innert 180 Tagen maximal 90 Tage als Touristen ohne Visum in der EU aufhalten. Dies ist vor allem für britische Rentner einschneidend, welche sich z.B. in Spanien niedergelassen haben. Sie müssen nach 90 Tagen jeweils wieder für 90 Tage ins VK zurück oder benötigen in Zukunft ein Visum.

Mit dem Brexit wird es für Briten auch schwieriger ins britische Gibraltar (im Süden von Spanien) zu reisen. Dieses gehört neu zum Schengenraum, weshalb es von Spaniern ohne Ausweis besucht werden kann, Briten hingegen werden in Zukunft am (britischen) Flughafen Gibraltar von spanischen Grenzbeamten kontrolliert - auf dem Staatsgebiet des britischen Gibraltar (Nachtrag vom 31. Dezember).

Dass Personenfreizügigkeit auch Vorteile hat, merken zurzeit britische Musiker. Eine Europatournee wird für sie kaum noch machbar, weil sie nun Dokumente für jedes einzelne Land der EU benötigen, das sie besuchen - und es müssen, wenn ich das richtig verstanden habe, sämtliche Instrumente und sogar Kabel registriert werden, um Schmuggel zu verhindern. Dies hat allerdings nichts mit Musik zu tun, sondern gilt natürlich für alle Branchen (Nachtrag vom 3. Januar).

Unfairer Wettbewerb

Um unfairen Wettbewerb zu verhindern war es der EU wichtig, dass sich das VK auch in Zukunft an EU weite Sozial- und Umweltnormen hält. Das heisst, dass das VK sich nicht mit Dumpinglöhnen oder einer Aufweichung von Umweltstandards, respektive Subventionen für Unternehmen einen Standortvorteil verschaffen darf. Hier wurde ein Kompromiss geschlossen. Das VK darf die aktuell gültigen Normen der EU nicht unterbieten, muss aber künftige Normen nicht übernehmen. Es gibt allerdings eine "Hintertür" für die EU: sollte die EU ihre Normen erhöhen und das VK nicht mitziehen, kann die EU z.B. den Export von Waren mit Ziel EU, die nicht den EU Regeln entsprechen mit Zöllen belegen. Für Exporte in die EU wird sich das VK also auch an künftige EU Regeln halten müssen, nicht aber für Exporte in den Rest der Welt.

Fische

Auch wenn die Fischerei auf beiden Seiten weit weniger als 1 Prozent der Wirtschaftsleistung ausmacht, kam es hier zum ganz grossen Streit. Denn bislang haben viele Fischer aus der EU in britischen Gewässern gefischt, was das VK nun beenden wollte (die Hintergründe sind kompliziert). Neu sieht die Regelung so aus, dass die EU-Fischerei in britischen Gewässern noch für 5.5 Jahre rechtlich abgesichert ist, allerdings sollte bis dann der Umfang nur noch 75 Prozent des heutigen umfassen. In 6 Jahren soll dann jeweils jährlich neu bestimmt werden wie viel Fisch die EU in britischen Gewässern fangen darf. Das Problem für die britischen Fischer wird aber darin bestehen, dass zumindest heute noch der allergrösste Teil der von Briten gefangenen Fische in die EU weiterverkauft wird. Die EU hat damit ein grosses Druckmittel - denn sie könnte Zoll für diese Fische verlangen.

Diverses

Mit dem endgültigen Ausscheiden aus der EU verliert das VK weitere Privilegien wie z.B. Zugriff auf verschiedene speziell für die Verbrechensbekämpfung wichtige Datenbanken. Zukünftig werden auch britische Berufsqualifikationen nicht mehr automatisch in der EU anerkannt werden, wird das VK nicht mehr am Studentenaustauschprogramm Erasmus teilnehmen etc. etc.

Für Streitfälle wird in Zukunft ein Schiedsgericht zuständig sein, das Abkommen kann mit 12 monatiger Frist gekündigt werden - oder wenn eine Seite grob gegen das Abkommen verstösst.

Eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten Veränderungen findet sich unter diesem Link auf englisch (pdf).



Fazit zum Brexit

Für die Verfechter des Brexit war vor allem zentral, dass das VK wieder mehr Eigenständigkeit erhält. Das VK solle sich nicht mehr einer fremden Macht, der EU und ihrem höchsten Gericht, unterordnen müssen; es wolle selber über seine Grenzen bestimmen, eigene Verträge abschliessen, eigene Regeln für die Wirtschaft aufstellen - und die an die EU gezahlten Gelder sinnvoller verwenden können. Ist dies mit dem jetzt geschlossenen Abkommen gelungen?

Nur sehr beschränkt und vor allem zu extrem hohen Kosten. Die EU wird auch nach dem Austritt wichtigste Handelspartnerin des VK bleiben. Rund 50 Prozent der Exporte des VK gehen zurzeit in die EU, vor allem aber ist es auf den Import insbesondere von Frischwaren wie Gemüse aus der EU angewiesen. Dieser Handel wird durch die neuen Grenzkontrollen aufwändiger und teurer. Für Exporte mit Ziel EU wird sich das VK zudem weiter an die von der EU vorgegebenen Regeln halten müssen. Im Handel mit anderen Staaten oder bei der Produktion von Waren, die für das VK selbst bestimmt sind kann das VK nun zusätzliche eigene Regeln festlegen oder weglassen. Dies ist zwar wiederum ein sehr grosser Aufwand, die Briten erhoffen sich aber hier Impulse, indem sie z.B. die Regeln für Zukunftsindustrien (Gentechnoloige, grüne Technologie etc.) unabhängig von der EU bestimmen können. Die Briten gewinnen hier an Flexibilität.

Dass sich das VK nicht mehr an den Europäischen Gerichtshof halten muss wird von den Brexiteers als grosser Sieg bejubelt. Dies ist aber eine Selbstverständlichkeit, da dieser nur innerhalb der EU zuständig ist und nicht für Freihandelsverträge. Mit dem totalen Austritt des VK aus der EU (es hätte auch "mildere" Formen gegeben) endet die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs automatisch.

Insgesamt wird der Brexit voraussichtlich viel mehr kosten als das VK damit einspart, dass es der EU nichts mehr zahlen muss. Die EU wiederum muss die Zahlungen des VK ersetzen oder einsparen. Es geht dabei um knapp 20 Euro pro Person in der EU und Jahr, die nun im EU Budget fehlen werden (unabhängig vom wirtschaftlichen Schaden).

Das VK muss sich nicht mehr an die Personenfreizügigkeit halten, darf in Zukunft selber bestimmen, wer eine Aufenthaltsbewilligung im VK erhält und wer nicht (natürlich immer in Bezug auf die EU). Dies war vielleicht der Hauptgrund für die aktuelle britische Regierung für den Brexit - und dies haben sie erreicht: die Personenfreizügigkeit gilt nicht mehr. Aber wie hier beschrieben sind die Kosten - in meinen Augen - sehr hoch. Zumal wenn man bedenkt, dass dafür sogar in Kauf genommen wurde, dass zwischen der Insel Grossbritannien und Nordirland eine Aussengrenze innerhalb des VK entstehen wird und eine Abspaltung Nordirlands in den Bereich des Möglichen gelangt.

Ist das VK nun eigenständiger, souveräner, unabhängiger als wenn es in der EU geblieben wäre? Auch hier ist das Fazit leider sehr durchwachsen. Dies zeigt sich beispielhaft an den Handelsverträgen, die das VK nun selbst aushandeln kann. Bei Handelsverträgen zählt vor allem die Grösse wie sich ja gerade beim hier behandelten Handelsvertrag EU-VK gezeigt hat: die EU konnte sich fast überall durchsetzen. Das VK hat zwar bereits über 60 eigene Handelsverträge abschliessen können, die meisten davon sind aber einfache Kopien der EU-Verträge vor allem mit kleinen Staaten. Möglich ist, dass das VK ein Abkommen mit den USA abschliessen wird (was der EU nicht gelungen ist), dies würde aber vermutlich vor allem zum Vorteil der USA ausfallen und grosse Eingeständnisse des VK erfordern. Das VK hat ohne EU nun mehr Flexibilität, dafür fehlen ihm die Grösse und die Erfahrung der EU z.B. in Bezug auf das Schliessen von Handelsverträgen.

Aber kann das VK nun zumindest wieder über seine eigenen Fische bestimmen (die in der Regel in EU-Gewässern "geboren" werden)? Die Reaktion der britischen Fischer zeigt, dass dem wohl nicht so ist, denn sie zeigen sich "wütend, enttäuscht und betrogen", wie eine deutsche Zeitung schrieb. Doch auch die Fischer der EU sind unzufrieden, was einmal mehr zeigt, dass es sich beim Brexit um eine "Lose-Lose" Situation handelt, dass es keine Gewinner, sondern nur Verlierer gibt.

Mein persönliches Fazit: Für ein kleines bisschen mehr Unabhängigkeit hat die aktuelle britische Regierung unter Boris Johnson unglaublich viel kaputt gemacht und es ist noch nicht abzusehen, welche Folgen der Brexit wirklich haben wird. Vermutlich vor allem negative, es ist aber nicht auszuschliessen, dass sich dadurch eine neue Dynamik entfaltet, die bislang völlig unbeachtete Aspekte betrifft, die sich letztlich als Vorteil erweisen werden. Prognosen für die Zukunft sind unmöglich.


Was bedeutet das für die Schweiz?


In den Tagen nachdem das Ergebnis der Verhandlungen bekannt geworden ist, gab es von verschiedenen Politikerinnen und Politikern der Schweiz die Forderung, dass die Schweiz das Rahmenabkommen mit der EU jetzt neu verhandeln müsse. Schliesslich sei die EU dem VK weit entgegengekommen, müsse sich das VK künftig nicht mehr dem Europäischen Gerichtshof unterordnen und habe es die Personenfreizügigkeit beendet. Forderungen, die auch in der Schweiz immer wieder zu hören sind.

Wie dieser Text gezeigt haben sollte ist die EU dem VK aber gerade nicht besonders stark entgegengekommen. Dass sich das VK nicht mehr an Urteile des Europäischen Gerichtshofs halten muss und die Personenfreizügigkeit nicht mehr gilt hat schlicht und einfach damit zu tun, dass es die EU inklusive EU-Binnenmarkt verlassen hat. Und nichts mit dem nun ausgehandelten Freihandelsvertrag.

In Bezug auf das zurzeit zur Unterzeichnung vorliegende Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU sieht das ganz anders aus. Die Schweiz ist (grösstenteils) Teil des EU-Binnenmarkts und muss deshalb auch die vier Grundfreiheiten inklusive Personenfreizügigkeit akzeptieren. Im Rahmenabkommen soll nun geklärt werden, was geschieht, wenn sich EU und Schweiz nicht einig sind. In Bereichen, die den EU-Binnenmarkt betreffen will die EU zwingend, dass die Schweiz die Urteile des Europäischen Gerichtshofs akzeptieren muss. Dies, weil dieser das letzte Wort hat bei der Rechtsauslegung in Bezug auf den Binnenmarkt, respektive auf EU-internes Recht. Dies ist aus Sicht der EU nicht verhandelbar und ist auch überhaupt nicht vergleichbar mit dem Brexit-Abkommen. In allen Bereichen, die NICHT direkt mit dem EU-Binnenmarkt zu tun haben wird der Europäische Gerichtshof aber nicht zuständig sein, auch dies ist bereits so im Rahmenabkommen festgehalten. Also dort, wo es mit dem Nach-Brexit-VK vergleichbar ist, ist auch mit dem Rahmenvertrag der Europäische Gerichtshof nicht zuständig.

Der einzige Weg, um wie künftig das VK nicht dem Europäischen Gerichtshof unterstellt zu sein, würde die Kündigung der Bilateralen I durch die Schweiz bedeuten. Selbstverständlich kann auch die Schweiz in Zukunft nur noch via ein Freihandelsabkommen mit der EU verbunden sein (ein solches existiert sogar bereits seit 1972), die Schweiz wäre dann aber viel weniger nah an die EU gebunden und würde viele Privilegien verlieren und es würde für die Schweiz zu grossem wirtschaftlichem Schaden führen. Und gerade vor wenigen Monaten hat sich die Schweiz für das Beibehalten der Personenfreizügigkeit und damit für den Verbleib im EU-Binnenmarkt ausgesprochen.

Nach den für die EU durchaus erfolgreichen Verhandlungen mit dem VK (die EU hätte das VK lieber im Binnenmarkt gehalten, aber das war nicht möglich), ist nicht davon auszugehen, dass sie der Schweiz entgegenkommen wird. Das viel grössere VK hat in den Verhandlungen fast nichts durchsetzen können und die EU hat sämtliche (!) ihrer roten Linien bewahren können, hat also nirgendwo (!) nachgegeben, wo es für sie wirklich wichtig war. Ganz im Gegenteil zu den Briten, die sogar eine Grenze im eigenen Land akzeptieren mussten. Es ist deshalb nicht davon auszugehen, dass es der Schweiz gelingen wird, ihre neu aufgetauchten roten Linien mit der EU neu - und erfolgreich - verhandeln zu können. Die Schweiz wird sich wohl entscheiden müssen: Weitergehen des bilateralen Wegs und Akzeptanz des Rahmenabkommens - oder Ende der Bilateralen und damit im Prinzip ebenfalls eine Art Brexit, quasi den "Schweixit".
Martin Rey, 28.12. 2020



Quellen


Für den Bereich des Freihandelsabkommen dient als Grundlage diese offizielle Zusammenfassung der EU: https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/eu-uk_trade_and_cooperation_agreement-a_new_relationship_with_big_changes-brochure.pdf

Ein gutes Interview zum Vergleich Schweiz-UK

Eine Kurzfassung der wichtigsten Veränderungen per 1.1.2021 (pdf)

Und hier noch der ganze Vertrag - 1255 Seiten, viel Spass beim Lesen!


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